Wider den Zwang mit Aikido

Von Carolin Niederhofer

Seit Jahren, ja, seit Jahrzehnten kämpfe ich mit einer Zwangserkrankung. Waschzwänge und Kontrollzwänge haben lange Zeit mein Leben eingeschränkt und beschäftigen mich nach wie vor. Allerdings lasse ich mich inzwischen nicht mehr von ihnen ans Haus binden. Auch das war mal der Fall. Das Haus zu verlassen, kostete mich große Anstrengung. Das ist vorbei, dank meines Kommunikationsbedürfnisses und meiner Neugier – ich kann einfach nicht ganz ohne Menschen. Ich schätze es, immer wieder mit mir allein zu sein, doch hin und wieder muss ich unter Leute. Das hat mich davor bewahrt, mich im Haus einzusperren. Und meine Neugier hat mir eine neue Herausforderung beschert: ich habe die Kampfkunst für mich entdeckt.

Seit anderthalb Jahren übe ich mich im Aikido. Das ist eine Kampfkunst, die vielmehr die Harmonie sucht als zum Ziel hat, den anderen niederzumachen. Man spricht im Aikido auch nicht vom Gegner, man spricht vom Partner. Es geht darum, mit dem Gegenüber auf eine Wellenlänge zu kommen, nicht ihn zu bezwingen. Es geht darum, gemeinsam einen Weg zur Einigung zu finden. Trotzdem darf man auch im Aikido nicht die Vorsicht fahren lassen, der Partner kann ernsthaft verletzt werden, passt er nicht auf sich auf. Betont sei hier nochmal: das ist nicht die vorrangige Absicht. Absicht, Timing und Distanz, das sind die Faktoren, die im Leben wie im Aikido entscheidend wirken. Um ans Ziel zu gelangen, muss man die eigene Absicht kennen und die des Partners erspüren, idealerweise, bevor er diese umsetzen kann. Es gilt, den richtigen Zeitpunkt abzupassen und die angemessene Distanz zu finden. Dann ist der Erfolg schon greifbar. Womit wir bei der Technik sind. Wer den Partner im Aikido an den Handgelenken greift, gibt ihm Raum und Gelegenheit, die Technik zu üben und ist damit selbst in der verteidigenden Position. Im Aikido bedeutet das, man lässt den anderen machen und geht mit in der Bewegung. Jemand Fremdes an den Handgelenken zu greifen, schon das war zu Anfang meiner Aikido-Karriere mit einem mulmigen Gefühl verbunden. „Was passiert jetzt?“, war immer die nächste Frage. Und ich lernte mit der Zeit, dass ich mich auf meinen Partner verlassen kann. Ausnahmslos alle übten sich in großer Geduld mit mir und jedem anderen Anfänger. Eine sehr bereichernde Erfahrung. Es gibt Übungen, die mag ich nicht besonders. Rollen zum Beispiel. Sobald der Körper in der Luft ist, vertraut der Übende sich ausschließlich dem Fluss und der Bewegung seines Körpers an. Nach anderthalb Jahren Aikido fällt mir genau das immer noch schwer. In meinem Fall erkläre ich es mir damit, dass ich als Kind Epileptikerin war. Für einen kurzen Moment zuzulassen, nicht bewusst in die Bewegung eingreifen zu können, ist für mich eine Herausforderung.  Mein Ziel ist es, mir auch in dieser Hinsicht eine neue Wahrnehmung anzutrainieren.

Aikido ist vor allem stetes Üben, wieder und wieder von vorn anfangen, und mitunter kann es lange dauern, bis eine Übung verinnerlicht ist. Noch bin ich ganz am Anfang des Wegs. Mit Aikido sind meine Zwänge nicht verschwunden, aber sie hindern mich nicht daran, weiterzumachen, immer wieder hinzugehen, weil ich weiß: selbst wenn mir ganz und gar nicht nach Aikido ist, hinterher fühle ich mich in der Regel besser, freier. Ganz nebenbei habe ich vieles für den Alltag gelernt: das letzte Weihnachten habe ich 10 Tage lang im Ferienhaus mit meiner Großfamilie verbracht – nachdem ich es viele Jahre lang vorgezogen hatte, Weihnachten allein zu sein, weil ich mich der emotionalen Seite des Festes nicht gewachsen fühlte. Es ist gut gegangen. Die eine oder andere Reiberei gab es natürlich. Aber immer wieder fanden wir den Weg zurück zur Harmonie, ohne auf die Auseinandersetzung zu verzichten. Das habe ich im Aikido gelernt: für mich einzustehen, ohne den anderen zu verletzen. Wer sich auf das Abenteuer Aikido einlässt, eröffnet sich neue Wege und Perspektiven. Frei zitiert nach Kar Wai Wong, der mit seinem Kung-Fu-Film „The Grandmaster“ die Berlinale 2013 eröffnete: „In der Kampfkunst geht es um das Akzeptieren, um das Umarmen, nicht um das Gegeneinander.“ Ich kann es nur empfehlen, es lohnt die Mühe, ganz bestimmt.


    Kommentiere den Beitrag